„Dem deutschen Publikum wird ein Reichtum an frei zugänglichem Fernsehen angeboten, den es nirgendwo anders gibt.“
Zum Auftakt unserer Plattform #meinfernsehen2021 hat Moderatorin und Journalistin Jenni Zylka den Programmdirektor des WDR für Information, Fiktion und Unterhaltung, Jörg Schönenborn, interviewt. Im Interview verrät er, welche Serien und Filme er bei Netflix & Co guckt, wie er zur „Haltung“ im Journalismus steht und welches Thema er gerne verfilmen würde.
Über welchen Film oder welche Serie haben Sie in letzter Zeit diskutiert, was hat Sie beeindruckt?
Wegen Corona schaue ich im Moment besonders viel, zum Beispiel unsere Serien-Offensive. Richtig klasse fand ich aber auch die deutsch-französische Koproduktion „Parlament“, ein liebevoll-skurriler Blick auf ein kleines Europa, sehr witzig und satirisch, aber dabei gar nicht böse. Und ich freue mich auf einen Mehrteiler mit Matthias Brandt, „Das Geheimnis des Totenwaldes“. Eine reale Vermisstengeschichte aus Norddeutschland – als Drama umgesetzt, schauspielerisch großartig, sehr berührend.
Schauen Sie auch auf den Streamingplattformen?
Bei Netflix habe ich „The Trial of the Chicago 7“ gesehen. Da geht es um Demonstrationen und Polizeigewalt beim Parteitag der Demokraten 1968. Großartig inszeniert und doch irgendwie eine recht konventionelle Geschichte aus dem Gerichtssaal.
Und aus dem Unterhaltungsbereich?
„Die wunderbare Miss Maisel“ auf Prime Video zum Beispiel. Und als wir jetzt ein paar Tage im Urlaub waren, habe ich „Eichwald, MdB“ in der ZDF-Mediathek geschaut – sehr lustig.
Was gefällt Ihnen in den Privatsendern, und was im ZDF?
Die Privaten sehe ich zu wenig. Was das ZDF angeht, ragt im Informationsbereich das „Heute-Journal“ heraus. Ich bin sehr dankbar, dass es das gibt, es ist keine Kopie der Tagesthemen, sondern ein Nachrichtenmagazin eigener Art. Etwas, woran wir uns in der ARD regelmäßig messen können. Und ich persönlich schau das im Vergleich immer gerne.
Haben Sie irgendwas gebingewatcht in letzter Zeit?
„Unorthodox“ habe ich sehr schnell bei Netflix zu Ende geguckt – die Geschichte einer jungen Frau, die sich von der ultra-orthodoxen jüdischen Religionsgemeinschaft in New York befreit und ein neues Leben in Berlin beginnt. Das ist ja auch ein Beispiel für die Globalisierung deutscher Kultur: Eine deutsche Produktion, die nicht nur New York als einen der Standorte wählt, sondern auch auf eine sehr amerikanische Weise erzählt.
Beobachten Sie, dass deutsche Produktionen diese amerikanische Erzählweise immer öfter übernehmen?
Man müsste das umgekehrt sagen: Es ist ein Phänomen, ein großer Schatz in unserer Kultur, dass sich diese amerikanische Erzählweise bei uns eben nicht als prägend durchgesetzt hat. In vielen klassischen Fernsehmärkten hat über Jahrzehnte eine Globalisierung der Filmkultur stattgefunden. Bei uns hat es seit den 80ern und 90ern eher die Gegenbewegung gegeben: Die deutsche Filmproduktion und deutsche Serienproduktion haben Eigenständigkeit und Qualität entwickelt. Jetzt allerdings merkt man gerade, dass die Plattformen aufgrund ihres Geschäftsmodells mit ihren in Europa erteilten Aufträgen versuchen, für ein internationales Publikum zu produzieren.
Aber es sind doch eine Menge Zuschauer*innen, die dieses schnelle Tempo und die neuen Erzählweisen sehr überzeugend finden…
Für ein gebildetes, städtisches, kulturell offenes Milieu, das die deutsche Öffentlichkeit prägt, aber die Minderheit der Bevölkerung ausmacht, ist das ein attraktives Angebot.
Eine Serie wie die BBC Produktion „Sherlock“ schafft es, alle Zielgruppen zu erreichen, egal ob städtisch, ländlich, intellektuell oder einfach nur Krimifan.
Davon hab ich zu wenig gesehen, um das einschätzen zu können.
Welches Funk-Format sollte man auf jeden Fall gucken?
Das „reporter“-Format. Das hatten wir vor fünf Jahren als eines unserer ersten neuen digitalen Produkte gestartet, und ich freue mich sehr, dass es bei „Funk“ weiterlebt und mittlerweile auch über viele andere Plattformen verteilt wird. Ich finde es deshalb wichtig, weil es im Kern klassischer Journalismus ist. Und wir wissen aus Umfragen, dass die Glaubwürdigkeit des Öffentlich-Rechtlichen auch bei den Jungen besonders hoch geschätzt wird und dass die viel erwartungsvoller und empathischer auf uns schauen als etwa die mittelalten Generationen.
Zum Thema Diversität, also Sichtbarkeit von allen Gesellschaftsgruppen, vor und hinter der Kamera – einige Filmförderungen arbeiten schon mit Regeln oder Kriterienlisten. Ist so etwas für Fernsehproduktionen denkbar?
Kunst und Journalismus regulieren zu wollen, ist ja ein Widerspruch in sich. Trotzdem sehe ich, wie wir zwar bei diesem Thema in Wellen immer wieder vorankommen, aber auch immer wieder zurückfallen. Ich fand es zum Beispiel wirklich überraschend, wie männlich geprägt lange Zeit die Regie-Szene im Fernsehfilm war und teilweise ja auch noch ist – denn die Redaktionen in diesem Bereich sind ja weiblich geprägt. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass gerade bei der Regie häufig Auftraggeberinnen Männer auswählen. An der Stelle habe ich gelernt, dass man einen gewissen Rahmen braucht. Wir haben jetzt die Regel, dass uns bei Fernsehfilmen, Tatorten und Serien Produktionsfirmen mindestens ein weibliches Regie-Angebot machen müssen – falls ein Regisseur vorgeschlagen wird, muss auch eine Regisseurin vorgeschlagen werden. Das machen wir jetzt seit drei Jahren, und das hat etwas verändert.
So richtig viel aber noch nicht – jedenfalls nicht zu 50:50, wie das Mann-Frau-Verhältnis in der Gesellschaft ist.
Ich habe eine Studie aus dem letzten Jahr gelesen – ja, wir sind noch nicht bei 50 % Frauen in allen Genres. Aber wenn man von 90 % männliche Besetzungen kommt, dann ist das doch der richtige Weg. Zumal wir ja auch von Produkten sprechen, die drei Jahre brauchen, um zur Sendung zu kommen. In dieser Zeit verändert sich viel – auch bei Besetzungspraktiken. Grundsätzlich bin ich bei Regeln zwar skeptisch, aber an dem Beispiel hier habe ich gemerkt, wie Ziel-Vereinbarungen doch etwas verändern können – diese Regel hat sich als wirksames Instrument erwiesen.
Was können Sie sich von Streaming Portalen abgucken?
Zunächst einmal ist es erstaunlich, was die von uns abgucken, wie viele klassische Formen des Fernsehens deren Produktionen prägen. Auf der anderen Seite haben diese Portale eine hervorragende Oberfläche und Haptik – da sind wir allerdings inzwischen auch in der Aufholjagd mit unseren Mediatheken. Was wir allerdings sonst noch abgucken können: Wir haben zum Beispiel in der ARD mit dem Dienstag einen Serienplatz, der extrem stark gesehen wird. Trotzdem bieten wir erstaunlich wenige Serien an, die wir dann konsequent langlebig fortführen. Wir beenden viele nach ein, zwei Staffeln. Das ist etwas, was wir gerade lernen: Man braucht möglichst viele Folgen einer Serie, damit Nutzerinnen und Nutzer lange genug dabeibleiben können.
Vermissen Sie etwas im deutschen Fernsehen?
Dem deutschen Publikum wird ein Reichtum an frei zugänglichem Fernsehen angeboten, den es nirgendwo anders gibt. Dazu aber auch eine Qualität, die ebenfalls immer seltener existiert: Das Vollprogramm. Dass wir tatsächlich die Unterhaltung, vor allem die fiktionale, und die aktuelle wie vertiefende Information aus den gleichen Quellen und auf den gleichen Kanälen haben – das ist das Gegenmodell zur klassischen Plattform im amerikanischen Sinne. Und das hat einen großen Wert, denn es ist gesellschaftsbildend. Wir müssen dennoch vieles im Blick behalten: Auf der einen Seite steht das Bedürfnis, die Stoffe und Inhalte souverän auszuwählen, auf der anderen ein genauso starkes Bedürfnis nach Live-Events, nach dem gleichzeitigen Erleben, mit dem man Gemeinschaft spüren und fördern kann. Der Tatort ist ein gutes Beispiel dafür. Und wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir weiterhin solche Momente gesellschaftlicher Gemeinsamkeit schaffen und erhalten können. Das ist nicht unmodern.
Was muss denn konkret geändert werden, um Fernsehen in die Zukunft zu retten?
Interessanterweise konzentrieren sich gegenwärtige Innovationen seit einer Weile auf Verbreitung. Inhalte kann man immer wieder verändern und in die Zeit transportieren. Aber eigentlich ist auch das, was auf YouTube läuft, inhaltlich nicht so wahnsinnig revolutionär. Die große Preisfrage ist, wie wir unsere Inhalte unabhängig sowie auf Augenhöhe mit YouTube und anderen Nutzungszeitfressern auch in Zukunft verbreiten können. Denn unsere ureigenen linearen Wege werden nach und nach immer weniger genutzt. Aber ob der digitale Erfolg dann eine Frage von guten Algorithmen oder von der Bündelung technischer Verbreitung ist, vermag ich nicht zu sagen.
Aber erfolgreiche YouTube-Formate unterscheiden sich auch inhaltlich von klassischem Fernsehen: Es geht viel häufiger um Meinungsjournalismus, um Haltung.
Ich weiß, worauf Sie hinauswollen – aber Haltung halte ich für ein viel strapaziertes Wort, weil es im Journalismus oft in Anspruch genommen wird, wenn man die professionellen Standards der Trennung von Berichterstattung und Kommentierung nicht einhalten will. Was wir verstehen müssen: Junge Menschen lernen von Kind an, wie man Videos herstellt. Und sie tun es selbstverständlich vollkommen subjektiv und ganz persönlich. Wer mit Anfang 20 in den Journalismus geht, hat schon zehn Jahre Videos aus eigener Perspektive gedreht und in sozialen Netzwerken veröffentlicht – und sich dabei in der Regel überhaupt nicht mit journalistischen Regeln und Standards beschäftigt. Diese Spannung spüre ich. Junge Nutzerinnen und Macher schätzen den ganz subjektiven persönlichen Blick. Und zugleich wollen sie viele verschiedene Perspektiven nebeneinander sehen. Keiner soll ihnen aber vorschreiben, welche sie sich zu eigen machen. Multiperspektivität ist aber eine wichtige journalistische Leitlinie. Unsere Pflicht als öffentlich-rechtlicher Rundfunk ist es, alle rechtlich zulässigen und nicht moralisch verwerflichen Sichtweisen darzustellen. Nur so können wir heute unserem Auftrag gerecht werden, zur Meinungsbildung beizutragen.
Wenn Sie einen Stoff verfilmen könnten der Ihnen am Herzen liegt –welches Thema wäre das?
Ich bin ja in der luxuriösen Situation, dass ich es sogar könnte! Mich beschäftigt gerade wieder ein großes Thema unserer Gesellschaft: Die Entvölkerung von Teilen des Landes einerseits und das Wachsen von Ballungsräumen andererseits. Das beobachten wir momentan in Amerika als politisch trennendes Kriterium, und bei uns ist es auch so: Die AfD wird dort gewählt, wo immer weniger Menschen leben – die Grünen haben ihre Hochburgen, wo mehr Menschen zuwandern. Ich glaube, wir unterschätzen, wie viel kulturelle Veränderung damit stattfindet. Unterschiede zwischen Stadt und Land gab es immer, aber die Pole bewegen sich heute immer weiter auseinander. Das zu thematisieren, dafür auch fiktionale Darstellungsideen zu finden – das finde ich schon spannend.